Virtual Commissioning: Vollständige Inbetriebnahme von Anlagen in simulierten Umgebungen
Die Inbetriebnahme komplexer Produktionsanlagen gehört zu den zeit- und kostenintensivsten Phasen im Lebenszyklus einer Fabrik. Traditionelle Methoden erfordern häufig umfangreiche Vor-Ort-Tests mit physischen Prototypen, die bei Fehlfunktionen zu teuren Stillständen und Nacharbeiten führen. Virtual Commissioning verlagert diese Prozesse in virtuelle Realitäten: Sämtliche mechanischen, elektronischen und steuerungstechnischen Komponenten werden zunächst in einer digitalen Simulation integriert und getestet. Dies erlaubt eine vollumfängliche Inbetriebnahme bereits vor dem physischen Aufbau.
Ganzheitliche Digitalsimulation
Im Zentrum des Virtual Commissioning steht ein virtuelles Abbild der realen Anlage. CAD-Modelle aller Maschinen werden in Simulationsumgebungen importiert und mit digitalen Steuerungs- und Regelungslogiken verknüpft. Per Standardprotokolle wie OPC UA oder PLCopen kommunizieren SPS-Simulationen mit den virtuellen Maschinen. Ergänzt durch digitale Zwillinge, die Sensorwerte und Aktordaten in Echtzeit nachbilden, entsteht eine umfassende Testumgebung. In dieser können Steuerungsprogramme, Sicherheitskonzepte und Prozessabläufe geprüft werden, noch bevor Leitungen verlegt oder Geräte montiert wurden.
Vorteile gegenüber konventioneller Inbetriebnahme
Ein zentraler Vorteil ist die Fehlerlokalisierung in der frühen Projektphase. Wird in der Simulation eine Kollision zwischen Roboterarm und Transportband festgestellt, lässt sich die Programmierung der Trajektorien anpassen, ohne teure mechanische Umbauten. Zudem beschleunigt Virtual Commissioning den Projektzeitplan: Simulationszyklen laufen rund um die Uhr und können automatisiert validiert werden, während Monteure parallel die physische Infrastruktur vorbereiten. Dies führt zu einer Verkürzung der Gesamtinbetriebnahmezeit um bis zu 50 Prozent und spart erhebliche Kosten für personalintensive Tests.
Integration in den Projektablauf
Der typische Ablauf beginnt mit der Konzeptionsphase, in der CAD-Modelle und Steuerungsprogramme vorhanden sein müssen. In einem Digitalisierungsworkshop arbeiten Maschinenbauer, Automatisierer und IT-Experten zusammen, um die Simulationsumgebung aufzusetzen. Anschließend folgt die Simulationsphase, in der Abläufe, Sicherheitszonen und HMI-Bedienseiten getestet werden. Erkenntnisse fließen direkt in die SPS-Programmierung und Mechanikabstimmung ein. Nach erfolgreicher virtueller Validierung erfolgt die physische Inbetriebnahmephase, die dann lediglich den letzten Test der realen Hardware erfordert.
Praxisbeispiel: Automobilproduktion
Ein Hersteller arbeitete für eine neue Montagelinie zunächst ausschließlich virtuell. In der Simulation wurden alle Handlingsroboter, Förderbänder und Sicherheitseinrichtungen integriert und durchgespielt. Fehler in der Steuerungslogik, etwa fehlerhafte Kollisionsvermeidung, wurden in wenigen Tagen behoben. Bei der physischen Montage konnte die Linie nach nur einer Woche Inbetriebnahme live gehen – üblicherweise wäre dazu ein Monat erforderlich gewesen. Die Kosten für Probebetrieb und Nachbesserungen reduzierten sich um 70 Prozent.
Technologische Voraussetzungen
Für ein effektives Virtual Commissioning benötigen Unternehmen valide CAD- und 3D-Modelle aller Anlagenkomponenten, zugängliche SPS-Programmcode-Bibliotheken idealerweise mit Versionskontrolle, leistungsfähige Simulationssoftware mit Echtzeitfähigkeit und offenen Schnittstellen sowie Infrastruktur für verteilte Simulationen durch Edge-Computing oder Cloud-Ressourcen. Nur so lässt sich eine realistische, skalierbare Simulation aufbauen, die auch komplexe Mehrmaschinenverbünde abbildet.
Auswirkungen auf Projektmanagement und Kostenstruktur
Virtual Commissioning verändert das Kostenmodell ganzer Projekte. Der frühzeitige Einsatz digitaler Tests verschiebt Aufwände von teurem Vor-Ort-Personal in Software- und IT-Aufwendungen. Dies bietet insbesondere für Serienprojekte Skaleneffekte: Einmal entwickelte Simulations-Frameworks lassen sich für ähnliche Anlagen schnell wiederverwenden und anpassen.
Ausblick: KI-gestützte Simulation und autonome Inbetriebnahme
Die nächste Evolutionsstufe integriert KI in Virtual Commissioning. Maschinelles Lernen erkennt Muster in Simulationsdaten und schlägt automatisch Optimierungen vor, beispielsweise für Zykluszeiten oder Energieverbrauch. Autonome Inbetriebnahmeplattformen warten Steuerungssoftware bis zur optimalen Parametrierung selbstständig durch und validieren sie anhand realer Sensordaten. Damit verlagert sich die Rolle des Engineers von manuellen Tests hin zu Prozessüberwachung und strategischer Planung.
Virtual Commissioning etabliert sich als unverzichtbares Instrument für die Industrie 4.0. Wer die Inbetriebnahme in virtuelle Umgebungen verlagert, realisiert Anlagen schneller, kosteneffizienter und mit geringeren Risiken. Bereits heute sichert dieser Ansatz Herstellern einen spürbaren Wettbewerbsvorteil in einer zunehmend digitalisierten Fertigungswelt.
