No-Code, Low-Code und klassische Programmierung: Ein strategischer Leitfaden für deutsche Unternehmen

Executive Summary

Die digitale Transformation zwingt deutsche Unternehmen aller Branchen und Größen, die Art und Weise, wie sie Software entwickeln, grundlegend zu überdenken. Der immense Bedarf an digitalen Lösungen, gepaart mit dem anhaltenden Fachkräftemangel, übersteigt die Kapazitäten traditioneller IT-Abteilungen bei Weitem. In diesem Spannungsfeld etablieren sich No-Code- und Low-Code-Plattformen (LCNC) nicht nur als taktische Werkzeuge, sondern als strategische Enabler, die neben der klassischen Pro-Code-Entwicklung bestehen. Dieser Bericht liefert eine tiefgreifende, vergleichende Analyse dieser drei Entwicklungsansätze und bietet eine strategische Handlungsempfehlung für Entscheidungsträger in deutschen Unternehmen.

Kernaussagen:

  1. Drei Ansätze für unterschiedliche Ziele: Die Wahl zwischen No-Code, Low-Code und Pro-Code ist keine rein technische, sondern eine strategische Entscheidung über den optimalen Kompromiss zwischen Geschwindigkeit, Kosten, Kontrolle und Qualität.

    • No-Code ist ideal für die schnelle Erstellung einfacher, interner Anwendungen und Prototypen durch Fachanwender (Citizen Developer), birgt aber Risiken bei Skalierbarkeit und Governance.

    • Low-Code stellt den Mittelweg dar und beschleunigt die Entwicklung mittelkomplexer Anwendungen für Fachbereiche und Kundenportale. Es ist ein mächtiges Werkzeug zur Modernisierung von Legacy-Systemen, erfordert aber eine strikte Governance, um technische Schulden zu vermeiden.

    • Pro-Code bleibt unverzichtbar für hochgradig individuelle, skalierbare und unternehmenskritische Kernsysteme, bei denen Performance, Sicherheit und Einzigartigkeit den entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen.

  2. Der deutsche Marktkontext ist entscheidend: Die Auswahl einer Plattform muss die spezifischen Anforderungen des deutschen Marktes berücksichtigen. Führende Anbieter wie Microsoft, SAP und Mendix (Siemens) bieten gezielte Lösungen für DSGVO-Konformität, Datenresidenz in Deutschland/EU und Zertifizierungen nach BSI C5, was für regulierte Branchen und den öffentlichen Sektor ein kritisches Entscheidungskriterium ist. Die tiefe Integration in bestehende SAP-Landschaften ist für viele deutsche Unternehmen ein zentraler Faktor.

  3. Governance ist keine Option, sondern eine Voraussetzung: Der größte Fehler bei der Einführung von LCNC ist die Unterschätzung des Governance-Bedarfs. Ohne ein zentrales Center of Excellence (CoE), das klare Leitplanken für Sicherheit, Compliance und Architektur vorgibt, führt die „Demokratisierung der IT“ unweigerlich zu unkontrollierbarer Schatten-IT, massiven Sicherheitslücken und explodierenden langfristigen Kosten (Total Cost of Ownership). Eine Investition in Governance ist die Versicherungspolice gegen das Scheitern der LCNC-Strategie.

Strategische Empfehlungen:

Unternehmen sollten einen Portfolio-Ansatz verfolgen und nicht „den einen“ richtigen Weg suchen. Die strategische Aufgabe besteht darin, für jedes Problem den passenden Entwicklungsansatz auszuwählen.

  1. Strategische Ausrichtung definieren: Klären Sie die primären Ziele. Geht es um die Entlastung der IT, die Beschleunigung von Innovationen oder die Befähigung der Fachbereiche?

  2. Center of Excellence (CoE) etablieren: Schaffen Sie eine zentrale Instanz für Governance, Plattformauswahl, Schulung und Support. Dies ist der Grundpfeiler des Erfolgs.

  3. In Pilotprojekten starten: Wählen Sie klar definierte Anwendungsfälle mit hohem Geschäftswert, um Erfahrungen zu sammeln und den Nutzen nachzuweisen.

  4. Organischen Wandel fördern: Führen Sie Citizen-Developer-Programme schrittweise ein. Beginnen Sie mit technologieaffinen „Innovatoren“ in den Fachbereichen und nutzen Sie deren Erfolge, um eine breitere Akzeptanz zu schaffen, anstatt einen Top-Down-Ansatz zu erzwingen.

Die Zukunft der Anwendungsentwicklung liegt in der intelligenten Kombination der Ansätze und der Zusammenarbeit in „Fusion Teams“, in denen Fachexperten, Citizen Developer und Pro-Coder gemeinsam an Lösungen arbeiten – jeder mit den Werkzeugen, die seinen Fähigkeiten und der jeweiligen Aufgabe am besten entsprechen.


1. Das neue Paradigma der Anwendungsentwicklung in Deutschland: Markt, Trends und Akteure


Die deutsche Wirtschaft befindet sich an einem Wendepunkt. Die Notwendigkeit, Geschäftsprozesse zu digitalisieren, neue digitale Produkte zu schaffen und auf Marktanforderungen agil zu reagieren, war nie größer. Gleichzeitig stellt der Mangel an IT-Fachkräften eine der größten Wachstumsbremsen dar. Diese Konstellation hat ein neues Paradigma in der Anwendungsentwicklung hervorgebracht, das durch Low-Code- und No-Code-Plattformen (LCNC) geprägt wird. Diese Technologien versprechen, die Softwareerstellung zu beschleunigen, zu vereinfachen und einem breiteren Personenkreis zugänglich zu machen.


1.1. Haupttrends und Entwicklungen: Mehr als nur Geschwindigkeit


Die Attraktivität von LCNC-Plattformen geht weit über die reine Entwicklungsgeschwindigkeit hinaus. Sie sind die treibende Kraft hinter mehreren fundamentalen Trends, die die IT-Landschaft in deutschen Unternehmen nachhaltig verändern.

Demokratisierung der IT und der Aufstieg des Citizen Developers

Die Nachfrage nach digitalen Anwendungen übersteigt die Kapazität der zentralen IT-Abteilungen um ein Vielfaches. LCNC-Plattformen adressieren dieses Problem, indem sie die Anwendungsentwicklung „demokratisieren“. Sie ermöglichen es sogenannten Citizen Developern – technisch affinen Mitarbeitern aus den Fachbereichen ohne formale Programmierausbildung – selbstständig Anwendungen zu erstellen. Diese Mitarbeiter kennen ihre eigenen Prozesse und Anforderungen am besten und können mit den richtigen Werkzeugen schnell passgenaue Lösungen für ihre spezifischen Probleme entwickeln, von einfachen Formularen bis hin zu komplexeren Workflows. Dieser Ansatz ist eine direkte Antwort auf den Fachkräftemangel und ermöglicht es der professionellen IT, sich auf strategische und hochkomplexe Kernsysteme zu konzentrieren, während die Fachbereiche ihre eigene Digitalisierung vorantreiben.

Hyperautomatisierung und Prozessintelligenz

LCNC-Plattformen sind ein zentraler Baustein der Hyperautomatisierung. Während traditionelle Automatisierung oft auf einzelne Aufgaben beschränkt war, ermöglichen moderne Plattformen die Orchestrierung komplexer, abteilungsübergreifender End-to-End-Prozesse. Sie integrieren Workflow-Management, Robotic Process Automation (RPA), KI-Dienste und die Anbindung an Drittsysteme in einer einzigen Umgebung. Für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau beispielsweise bedeutet dies die Möglichkeit, produktionsnahe IT-Lösungen wie Dashboards zur Overall Equipment Effectiveness (OEE) oder IoT-Anwendungen schnell zu realisieren und so die Effizienz in der Fertigung zu steigern.

Die Integration von Generativer KI

Der jüngste und vielleicht transformativste Trend ist die Verschmelzung von LCNC mit Generativer Künstlicher Intelligenz (GenAI). Führende Marktforschungsunternehmen wie Forrester prognostizieren die Entwicklung hin zu „AppGen Platforms“, auf denen KI den Entwicklungsprozess aktiv unterstützt oder sogar vollständig übernimmt. Anstatt Komponenten per Drag-and-Drop zu verbinden, können Entwickler und Citizen Developer ihre Anforderungen in natürlicher Sprache beschreiben, woraufhin die KI einen ersten Anwendungsentwurf generiert. Anbieter wie Microsoft mit seinem Copilot in der Power Platform oder Salesforce mit der Einstein Plattform treiben diese Entwicklung massiv voran und versprechen eine weitere Beschleunigung und Vereinfachung der Anwendungsentwicklung.


1.2. Marktübersicht und statistische Einblicke: Der deutsche Markt in Zahlen


Die wachsende Bedeutung von LCNC lässt sich durch Marktdaten untermauern. Eine Studie von techconsult im Auftrag von mgm technology partners zeigt, dass sich bereits 78 % der deutschen Unternehmen mit dem Thema LCNC auseinandersetzen, sei es durch aktiven Einsatz, geplante Einführung oder zumindest als strategische Überlegung. Der Digitalverband Bitkom bestätigt diesen Trend und stellt fest, dass 35 % der Unternehmen LCNC bereits für die Automatisierung von Geschäfts- und Verwaltungsprozessen nutzen.

Allerdings ist die Durchdringung noch sehr heterogen. Während LCNC bei der Automatisierung der Dokumentenerkennung bereits eine hohe Relevanz hat (27 % der Unternehmen, die dies tun, nutzen LCNC), ist der Einsatz bei fortschrittlicheren Technologien wie KI (4 %) oder Chatbots (2 %) noch gering. Dies deutet auf ein erhebliches, noch ungenutztes Potenzial hin. Global wird dem No-Code-Markt ein enormes Wachstum prognostiziert, mit Schätzungen, die von einem Marktvolumen von 21,2 Milliarden US-Dollar bis 2025 ausgehen.

Trotz des Potenzials gibt es in Deutschland signifikante Hürden. Die techconsult-Studie identifiziert die größten Herausforderungen bei der Einführung von LCNC 13:

  • Fehlende Transparenz über die Fähigkeiten und Grenzen der verfügbaren Plattformen.

  • Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit.

  • Angst vor einer Herstellerabhängigkeit (Vendor Lock-in).

  • Hoher Schulungs- und Trainingsaufwand für Mitarbeiter.

  • Fehlende interne Ressourcen und Know-how.

Diese Bedenken spiegeln die typische deutsche Unternehmenskultur wider, die Wert auf Stabilität, Sicherheit und langfristige Planbarkeit legt, und müssen in jeder Einführungsstrategie adressiert werden.


1.3. Die wichtigsten Anbieter im Überblick: Wer dominiert den Markt?


Der Markt für LCNC-Plattformen ist dynamisch und wird von globalen Technologiekonzernen dominiert. Analystenhäuser wie Gartner und Forrester bieten Orientierung durch ihre regelmäßigen Bewertungen.

Anbieter

Produkt(e)

Analysten-Einstufung (Beispiele)

Strategischer Fokus/Stärken

Relevanz für Deutschland

Microsoft

Power Platform (Power Apps, Power Automate)

Leader (Forrester Wave 2025)

Umfassende, KI-gestützte Plattform; tiefe Integration in Microsoft 365 & Azure; starke Governance-Funktionen; breite Akzeptanz.

Sehr hoch; EU Data Boundary und souveräne Cloud-Optionen für Deutschland (Delos Cloud); weit verbreitet in deutschen Unternehmen.

ServiceNow

Now Platform (App Engine)

Leader (Forrester Wave 2025)

Starke Workflow-Automatisierung; gut für IT- und Geschäftsprozesse; skalierbar für Citizen & Pro-Developer; starker Fokus auf KI.

Hoch; Rahmenvertrag für den deutschen öffentlichen Sektor; beliebt für IT Service Management (ITSM) und Enterprise-Workflows.

OutSystems

OutSystems Platform

Leader (Gartner MQ 2023, Forrester Wave 2025)

High-Performance Low-Code für unternehmenskritische Anwendungen; starke UX-Entwicklung und skalierbare Architektur; Fokus auf Pro-Developer.

Hoch; starke Präsenz in regulierten Branchen (Finanz, Gesundheit); Fallstudie mit Universitätsklinikum Münster.

Mendix

Mendix Platform

Leader (Forrester), Visionary (Gartner)

Starke Integration mit SAP und Siemens-Ökosystem; Fokus auf Industrie 4.0 und komplexe Unternehmensanwendungen; flexible Deployment-Optionen.

Sehr hoch; als Siemens-Unternehmen tief in der deutschen Industrie verankert; Hosting auf souveräner deutscher Cloud (STACKIT) möglich.

SAP

SAP Build (Teil der SAP BTP)

Contender (Forrester Wave 2025)

Nahtlose Integration in SAP S/4HANA und andere SAP-Systeme; Fokus auf Erweiterung von SAP-Prozessen; richtet sich an Citizen Developer im SAP-Umfeld.

Extrem hoch; die erste Wahl für Unternehmen, die primär ihr SAP-System erweitern wollen; BSI C5-zertifizierte Cloud-Plattform.

Zoho

Zoho Creator

Visionary (Gartner MQ 2023)

Umfassende Suite für Business-Anwendungen; zielt auf Demokratisierung der Entwicklung ab; gutes Preis-Leistungs-Verhältnis für KMU.

Mittel; wachsende Präsenz im deutschen Mittelstand durch breites Portfolio an Geschäftsanwendungen.

Die Landschaft der Anbieter offenbart eine entscheidende strategische Weichenstellung. Der LCNC-Markt ist kein homogener Block, sondern teilt sich zunehmend in zwei Ströme auf. Auf der einen Seite stehen Plattformen, die die Demokratisierung der IT für Citizen Developer in den Vordergrund stellen. Sie zeichnen sich durch einfache Bedienung und einen Fokus auf No-Code aus, wie es etwa bei Teilen von SAP Build oder einfacheren Anbietern der Fall ist. Auf der anderen Seite etablieren sich sogenannte

„High-Performance“ Low-Code-Plattformen, die von Analysten wie Forrester und Gartner als Marktführer eingestuft werden. Diese Plattformen, wie OutSystems oder ServiceNow, werden für ihre Fähigkeit gelobt, hochskalierbare, sichere und unternehmenskritische Anwendungen zu erstellen. Sie sind weniger ein Werkzeug für den Laien als vielmehr ein Effizienz-Booster für professionelle Entwickler.

Für deutsche Unternehmen bedeutet dies, dass die Wahl einer LCNC-Plattform keine reine Tool-Entscheidung ist. Es ist eine strategische Entscheidung darüber, welches Ziel verfolgt wird: Sollen die Fachbereiche mit einfachen Werkzeugen zur Selbsthilfe befähigt werden, oder soll die professionelle IT-Abteilung mit leistungsfähigeren Plattformen ausgestattet werden, um ihre Produktivität zu steigern? Die Antwort auf diese Frage ist fundamental für die Auswahl der richtigen Technologie, des passenden Governance-Modells und der erforderlichen Schulungsprogramme.


2. Vergleichende Analyse: No-Code, Low-Code und Pro-Code im direkten Vergleich


Um eine fundierte strategische Entscheidung treffen zu können, ist ein klares Verständnis der Definitionen, Stärken, Schwächen und idealen Einsatzgebiete der drei Entwicklungsansätze unerlässlich. Diese vergleichende Analyse bildet die Grundlage für den strategischen Entscheidungsrahmen.


2.1. Grundlegende Definitionen und Abgrenzungen


Obwohl die Übergänge fließend sein können, lassen sich die drei Paradigmen klar voneinander abgrenzen, wie es auch in Publikationen des VDMA oder Bitkom dargelegt wird.

  • No-Code: Dieser Ansatz ermöglicht die Anwendungsentwicklung vollständig über grafische Benutzeroberflächen. Anwender nutzen Drag-and-Drop-Editoren und Konfigurationsmasken, um die Logik und das Aussehen ihrer Anwendung zu modellieren, ohne eine einzige Zeile Code schreiben zu müssen. Die Zielgruppe sind ausschließlich Fachanwender und Citizen Developer ohne Programmierkenntnisse.

  • Low-Code: Auch hier dominiert die visuelle, modellgetriebene Entwicklung. Der entscheidende Unterschied ist jedoch die Möglichkeit, bei Bedarf manuell in den Code einzugreifen. Professionelle Entwickler können vordefinierte Bausteine erweitern, eigene Komponenten schreiben oder komplexe Integrationen über Code realisieren. Low-Code richtet sich somit sowohl an Citizen Developer als auch an professionelle Entwickler und schlägt eine Brücke zwischen beiden Welten.

  • Pro-Code (Klassische Programmierung): Dies ist der traditionelle Weg der Softwareentwicklung, bei dem professionelle Entwickler den gesamten Quellcode in Programmiersprachen wie Java, Python, C# oder JavaScript von Grund auf schreiben. Dieser Ansatz bietet maximale Kontrolle, Flexibilität und Performance, erfordert jedoch tiefgehendes technisches Wissen, ist zeit- und kostenintensiv.


2.2. Vergleichende SWOT-Analyse


Eine SWOT-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats) verdeutlicht die strategischen Implikationen jedes Ansatzes im deutschen Unternehmenskontext.


No-Code SWOT


  • Stärken (Strengths):

    • Extreme Geschwindigkeit: Einfache Anwendungen und Prototypen können innerhalb von Stunden oder Tagen erstellt werden.

    • Minimale Einstiegshürde: Ermöglicht Fachabteilungen, ohne IT-Unterstützung schnell Lösungen für eigene Probleme zu schaffen.

    • Hohe Agilität: Schnelle Anpassung an sich ändernde, einfache Anforderungen.

  • Schwächen (Weaknesses):

    • Begrenzte Flexibilität & Skalierbarkeit: Stößt bei komplexen Logiken, individuellen UIs oder hohen Transaktionsvolumina schnell an Grenzen.

    • Integrationsprobleme: Die Anbindung an komplexe Altsysteme (z.B. Legacy-ERP) ist oft schwierig oder unmöglich.

    • Hohes Risiko der Schatten-IT: Ohne Governance entsteht eine unkontrollierte Landschaft von Insellösungen, die weder sicher noch wartbar sind.

  • Chancen (Opportunities):

    • Rapid Prototyping: Ideen können schnell visualisiert und getestet werden, bevor teure Entwicklungsressourcen gebunden werden.

    • Digitalisierung der „letzten Meile“: Perfekt für die Ablösung von papierbasierten Prozessen, Excel-Listen und einfachen E-Mail-Workflows.

    • Förderung einer digitalen Kultur: Senkt die Hemmschwelle zur Digitalisierung und motiviert Mitarbeiter, aktiv an der Verbesserung von Prozessen mitzuwirken.

  • Gefahren (Threats):

    • Sicherheits- und Compliance-Risiken: Anwendungen werden oft ohne Beachtung von DSGVO oder internen Sicherheitsrichtlinien erstellt.

    • Daten-Silos: Jede No-Code-App kann zu einem neuen, isolierten Datentopf werden, was eine unternehmensweite Datensicht verhindert.

    • Vendor Lock-in: Starke Abhängigkeit von einem einzigen Anbieter, dessen Plattform die Lebensader der Anwendung ist.


Low-Code SWOT


  • Stärken (Strengths):

    • Drastische Entwicklungsbeschleunigung: Laut Forrester kann die Entwicklung bis zu 10-mal schneller sein als bei Pro-Code.

    • Balance aus Geschwindigkeit und Kontrolle: Kombiniert die Effizienz visueller Entwicklung mit der Flexibilität von Code-Anpassungen.

    • Legacy-Modernisierung: Ideal, um veraltete Systeme (z.B. SAP ECC) mit modernen Oberflächen und mobilen Apps zu versehen, ohne den Kern ersetzen zu müssen.

    • Fördert Kollaboration: Schafft eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit von IT und Fachbereichen („Fusion Teams“).

  • Schwächen (Weaknesses):

    • Risiko technischer Schulden: Schnelle, aber unsaubere Entwicklung kann zu schwer wartbaren Anwendungen führen, wenn die Governance fehlt.

    • Lizenzkosten: Führende Enterprise-Plattformen können erhebliche, wiederkehrende Lizenzkosten verursachen.

    • Vendor Lock-in: Das Risiko der Herstellerabhängigkeit ist eine der größten Sorgen deutscher Unternehmen.

  • Chancen (Opportunities):

    • Schließung der Fachkräftelücke: Ermöglicht es, mit weniger Pro-Codern mehr digitale Lösungen zu schaffen.

    • Enabler für Industrie 4.0: Ermöglicht die schnelle Entwicklung von Anwendungen zur Vernetzung von Maschinen, Datenanalyse und Prozessoptimierung in der Fertigung.

    • Steigerung der Agilität: Unternehmen können schneller auf Marktveränderungen reagieren und neue digitale Services anbieten.

  • Gefahren (Threats):

    • Unterschätzter Governance-Aufwand: Ohne klare Regeln und ein Center of Excellence führt Low-Code ins Chaos.

    • Versteckte Komplexität: Die einfache Oberfläche kann über die Komplexität der dahinterliegenden Prozesse und Datenmodelle hinwegtäuschen.

    • Sicherheitslücken: Unsachgemäße Nutzung von APIs oder fehlerhafte Konfigurationen können Einfallstore für Angriffe sein.


Pro-Code SWOT


  • Stärken (Strengths):

    • Unbegrenzte Flexibilität und Kontrolle: Jedes Detail der Anwendung kann individuell gestaltet und optimiert werden.

    • Maximale Performance und Skalierbarkeit: Essentiell für Systeme mit höchsten Leistungsanforderungen (z.B. High-Frequency Trading, große E-Commerce-Plattformen).

    • Volle Kontrolle über Sicherheit und Compliance: Sicherheitsarchitektur und Datenschutzmaßnahmen können exakt nach eigenen Vorgaben implementiert werden.

    • Kein Plattform-Lock-in: Das geistige Eigentum am Code liegt vollständig beim Unternehmen.

  • Schwächen (Weaknesses):

    • Langsam und teuer: Die Entwicklungszyklen sind lang, und hochqualifizierte Entwickler sind eine knappe und teure Ressource.

    • Hohe Abhängigkeit von Spezialisten: Der Mangel an Entwicklern ist eine zentrale Hürde.

    • Großer Abstand zwischen Fachbereich und IT: Lange Entwicklungszeiten und technische Komplexität können zu Missverständnissen und unpassenden Lösungen führen.

  • Chancen (Opportunities):

    • Schaffung echter Wettbewerbsvorteile: Ermöglicht die Entwicklung einzigartiger, unternehmenskritischer Kernsysteme, die von der Konkurrenz nicht kopiert werden können.

    • Innovationstreiber: Notwendig für die Implementierung von Spitzentechnologien wie komplexen KI-Modellen oder Blockchain-Anwendungen.

  • Gefahren (Threats):

    • Legacy-Falle: Ohne kontinuierliche Modernisierung und Refactoring wird eine heute entwickelte Pro-Code-Anwendung zur Legacy-Last von morgen.

    • Hohes Investitionsrisiko: Lange und teure Projekte können scheitern oder von der Marktentwicklung überholt werden.

    • Fördert Schatten-IT: Wenn die zentrale IT zu langsam ist, suchen sich die Fachbereiche aus Frustration eigene (oft No-Code-)Lösungen.

Die Entscheidung zwischen den Ansätzen ist somit keine Frage nach dem "besten" Werkzeug, sondern eine strategische Abwägung von Kompromissen. Das klassische Projektmanagement-Dreieck aus Zeit, Kosten und Qualität (oder Geschwindigkeit, Preis und Güte) bietet hier einen nützlichen Rahmen. LCNC-Ansätze optimieren primär auf Geschwindigkeit und initiale Kosten, was potenziell zu Lasten der langfristigen Qualität (z.B. durch technische Schulden) gehen kann. Pro-Code hingegen priorisiert die Qualität und Kontrolle, was unweigerlich zu höheren Kosten und längeren Entwicklungszeiten führt. Die strategische Aufgabe des Managements ist es, für jeden Anwendungsfall zu definieren, welche dieser Kompromisse akzeptabel sind. Für eine kurzlebige Marketing-App ist die Priorisierung von Geschwindigkeit über langfristige Wartbarkeit sinnvoll (No-Code). Für ein Kernbanksystem ist sie inakzeptabel (Pro-Code). Für eine abteilungsinterne Workflow-Anwendung wird ein ausgewogener Mittelweg gesucht (Low-Code).


2.3. Ideale Anwendungsfälle und Problemstellungen


Aus der SWOT-Analyse leiten sich klare Empfehlungen für typische Anwendungsfälle ab:

  • No-Code ist die richtige Wahl für:

    • Interne Produktivitäts-Tools: Einfache Urlaubsanträge, Reisekostenabrechnungen, Checklisten für das Onboarding neuer Mitarbeiter.

    • Datenerfassung und Umfragen: Formulare zur Lead-Erfassung auf Messen, interne Mitarbeiterbefragungen, Feedback-Formulare.

    • Einfache Automatisierungen: Automatisierte Benachrichtigungen bei neuen Einträgen in einer Liste, simple Freigabeprozesse mit einem Genehmiger.

  • Low-Code ist ideal für:

    • Abteilungsanwendungen: Mittelkomplexe Anwendungen für spezifische Fachbereiche wie Marketing-Kampagnenmanagement, Vertriebs-Controlling oder HR-Prozesse.

    • Kunden- und Partnerportale: Portale, über die Kunden Bestellungen einsehen, Service-Tickets erstellen oder Rechnungen abrufen können.

    • Mobile Anwendungen für Außendienstmitarbeiter: Apps für Service-Techniker zur Auftragsverwaltung, Zeiterfassung und Dokumentation vor Ort.

    • Modernisierung von Legacy-Systemen: Entwicklung moderner, benutzerfreundlicher Web- oder Mobile-Frontends für bestehende, aber veraltete Kernsysteme wie SAP oder andere ERP-Lösungen.

  • Pro-Code bleibt unverzichtbar für:

    • Unternehmenskritische Kernsysteme: Die zentralen ERP-, CRM- oder SCM-Systeme, die das Rückgrat des Unternehmens bilden.

    • Hochleistungsanwendungen: Systeme, die extreme Transaktionsgeschwindigkeiten, geringste Latenzzeiten oder komplexe Berechnungen erfordern (z.B. im Finanzhandel, in der wissenschaftlichen Forschung).

    • Produkte mit einzigartigem IP: Software, die das Kernprodukt des Unternehmens darstellt und einen entscheidenden, schwer kopierbaren Wettbewerbsvorteil bietet.

    • Tiefgreifende Systemintegrationen: Komplexe Anbindungen auf Systemebene, die über standardisierte APIs hinausgehen.


3. Branchenspezifische Anwendungsfälle in der deutschen Wirtschaft


Die abstrakten Vergleiche werden erst durch konkrete Beispiele aus der Praxis greifbar. Die Anwendung von LCNC-Technologien variiert stark je nach Branche, den dort vorherrschenden Herausforderungen und dem Grad der digitalen Reife.


3.1. Industrie & Mittelstand (Industrie 4.0)


Der deutsche Mittelstand, insbesondere der Maschinen- und Anlagenbau, ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig steht er unter enormem Druck, die digitale Transformation im Sinne der Industrie 4.0 zu meistern. Herausforderungen sind oft veraltete, heterogene Maschinenparks (OT), fehlende Schnittstellen und ein Mangel an IT-Fachkräften, die sowohl die Produktions- als auch die IT-Welt verstehen.

Hier positionieren sich LCNC-Plattformen als ideale Brückentechnologie. Sie werden genutzt, um eine flexible Software-Schicht über die bestehende Infrastruktur zu legen und so produktionsnahe IT-Lösungen zu schaffen. Dazu gehören Dashboards zur Maschinenüberwachung (MES-Erweiterungen), Anwendungen für die mobile Qualitätskontrolle oder IoT-Gateways zur Datensammlung von älteren Maschinen.

Fallstudie: 50Hertz

Der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz stand vor der Herausforderung, die Wartung seiner Hochspannungsnetze effizienter zu gestalten. Die Dateneingabe in das bestehende SAP-System war zeitaufwendig und fehleranfällig. Mithilfe von SAP Build Apps, einer Low-Code/No-Code-Lösung auf der SAP Business Technology Platform, entwickelten Citizen Developer aus dem Fachbereich eine mobile Anwendung. Diese App vereinfacht die Erfassung und Berechnung von Stammdaten für Stromkreise direkt vor Ort. Die Ergebnisse waren beeindruckend: eine Verkürzung der Prozessdauer um 15 % und eine schnellere Einarbeitung neuer Techniker dank der intuitiven Bedienung.


3.2. Gesundheitswesen


Das deutsche Gesundheitswesen ist geprägt von hohen regulatorischen Anforderungen (Datenschutz, Patientensicherheit), komplexen Abrechnungsprozessen und der Notwendigkeit, Daten zwischen verschiedenen Systemen sicher auszutauschen. Krankenhaus-Informationssysteme (KIS) sind oft monolithisch und schwer anpassbar.

LCNC-Plattformen ermöglichen es Kliniken, schnell und flexibel auf neue Anforderungen zu reagieren und digitale Lücken zu schließen. Typische Anwendungsfälle sind die Digitalisierung der Patientenaufnahme, die Planung der Bettenbelegung, die mobile Visite mit direktem Zugriff auf die Patientenakte oder die Verwaltung von Medikamenten.

Fallstudie: Universitätsklinikum Münster

Auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie musste das Universitätsklinikum Münster (UKM) in kürzester Zeit eine Lösung zur Koordination der Intensivbettenkapazitäten für über 500 Kliniken in sieben Ländern schaffen. Mit der High-Performance-Low-Code-Plattform von OutSystems gelang es einem kleinen Team, innerhalb von nur einer Woche ein voll funktionsfähiges Webportal zu entwickeln und live zu schalten. Die Plattform ermöglichte nicht nur eine schnelle Entwicklung, sondern erfüllte auch die hohen Sicherheits- und Datenschutzstandards des Gesundheitswesens. Die CIO des UKM bezeichnete Low-Code daraufhin als eine wichtige strategische Perspektive für die zukünftige, flexible Digitalisierung des Klinikums.


3.3. Öffentlicher Sektor


Die deutsche öffentliche Verwaltung steht durch das Onlinezugangsgesetz (OZG) vor der gewaltigen Aufgabe, hunderte von Verwaltungsleistungen zu digitalisieren. Starre Hierarchien, lange Beschaffungswege und veraltete Fachverfahren erschweren dieses Vorhaben. Viele der geforderten digitalen Dienste sind für sich genommen zu klein für ein aufwändiges, klassisches IT-Projekt, in der Summe aber essenziell für einen modernen Bürger-Service.

Hier bieten LCNC-Plattformen einen Ausweg. Sie ermöglichen es Behörden, schnell und kosteneffizient digitale Antragsstrecken, Genehmigungsworkflows und Portale zu erstellen. Anbieter wie ServiceNow haben dies erkannt und bieten spezielle Rahmenverträge für die öffentliche Hand in Deutschland an, um die Beschaffung zu vereinfachen. Beratungsunternehmen wie Capgemini und bridgingIT haben Leitfäden entwickelt, die speziell auf den Einsatz von Low-Code in der deutschen Verwaltung zugeschnitten sind. Ein typisches Beispiel wäre die Entwicklung einer App zur Beantragung eines Bewohnerparkausweises, die den gesamten Prozess von der Antragstellung über die Bezahlung bis zur Ausstellung digital abbildet.


3.4. Start-ups und Digitalwirtschaft


Für Start-ups sind zwei Faktoren überlebenswichtig: Geschwindigkeit (Time-to-Market) und Kapitaleffizienz. Sie müssen ihre Ideen schnell in ein funktionierendes Produkt umsetzen, um Marktfeedback zu erhalten und Investoren zu überzeugen.

No-Code- und Low-Code-Plattformen sind für dieses Umfeld prädestiniert. Sie ermöglichen die Erstellung eines Minimum Viable Product (MVP) mit einem Bruchteil der Zeit und des Budgets, die für eine Pro-Code-Entwicklung nötig wären. Gründer können so Hypothesen validieren und ihr Produkt iterativ weiterentwickeln, ohne auf ein großes Entwicklerteam angewiesen zu sein. Plattformen wie Bubble, AppMaster oder auch Payment-Anbieter wie Stripe, die No-Code-Lösungen für Bezahlvorgänge anbieten, zielen genau auf dieses Segment ab.

Fallstudie: Ninox

Das Berliner Start-up Ninox ist selbst ein Anbieter einer Low-Code-Plattform, die sich stark an den deutschen Mittelstand richtet. Der Erfolg des Unternehmens, das namhafte europäische VC-Investoren gewinnen konnte, zeigt zweierlei: Erstens die hohe Nachfrage nach flexiblen Digitalisierungslösungen im deutschen Markt und zweitens die Validität des LCNC-Modells selbst als tragfähiges Geschäftsmodell.

Die branchenübergreifende Analyse offenbart ein klares Muster. In etablierten Organisationen mit einer gewachsenen und komplexen IT-Landschaft (Industrie, Gesundheitswesen, Öffentlicher Sektor) wird LCNC vorrangig als Erweiterungs- und Modernisierungswerkzeug eingesetzt. Es dient dazu, Agilität zu schaffen, ohne die stabilen, aber starren Kernsysteme (wie SAP oder ein KIS) in einem riskanten "Rip-and-Replace"-Projekt austauschen zu müssen. In Greenfield-Umgebungen wie bei Start-ups hingegen wird LCNC als Kern-Entwicklungswerkzeug genutzt, um das gesamte Produkt von Grund auf zu bauen. Diese fundamentale Unterscheidung zwischen "Extension" und "Core" ist ein entscheidender strategischer Filter bei der Auswahl einer Plattform. Ein CIO eines Industrieunternehmens muss eine Plattform nach ihrer Integrationsfähigkeit mit SAP und MES-Systemen bewerten. Ein Start-up-Gründer muss sie nach ihrer Skalierbarkeit und ihrem Funktionsumfang als alleinstehende Lösung beurteilen.


4. Strategische Herausforderungen meistern: Governance, Compliance und Wirtschaftlichkeit


Die Einführung von No-Code- und Low-Code-Technologien ist kein reines IT-Projekt, sondern eine strategische Initiative mit weitreichenden Konsequenzen. Der Erfolg hängt maßgeblich davon ab, wie Unternehmen die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Governance, Compliance und Wirtschaftlichkeit meistern. Ein Versäumnis in diesen Bereichen kann die anfänglichen Geschwindigkeits- und Kostenvorteile schnell zunichtemachen.


4.1. Governance als Erfolgsfaktor: Von der Schatten-IT zum Center of Excellence


Die größte Gefahr der LCNC-Bewegung ist die Entstehung einer unkontrollierten Schatten-IT. Wenn Citizen Developer ohne zentrale Steuerung und Richtlinien Anwendungen erstellen, führt dies unweigerlich zu einer fragmentierten, unsicheren und nicht wartbaren Applikationslandschaft. Die Lösung liegt nicht darin, die Entwicklung zu verbieten, sondern sie in geordnete Bahnen zu lenken.

Die Etablierung eines Center of Excellence (CoE) ist hierfür der bewährte Best-Practice-Ansatz. Das CoE agiert nicht als Torwächter, der alles blockiert, sondern als "Enabler", der Leitplanken setzt. Seine Aufgaben umfassen:

  • Plattformstrategie: Auswahl, Bereitstellung und Verwaltung der unternehmensweit zugelassenen LCNC-Plattformen.

  • Governance-Regeln: Definition von klaren Richtlinien, wer was entwickeln darf, welche Datenquellen angebunden werden dürfen und welche Sicherheits- und Qualitätsstandards gelten.

  • Schulung und Support: Aufbau eines Schulungsprogramms für Citizen Developer und Bereitstellung von Support durch Coaches und eine interne Community.

  • Wiederverwendbarkeit: Förderung der Erstellung und Nutzung von wiederverwendbaren Komponenten und Vorlagen, um die Effizienz zu steigern.

Zur Strukturierung dieser Governance-Aufgaben können etablierte Frameworks genutzt werden. Das vom Fraunhofer-Institut FOKUS entwickelte Low-Code-Canvas bietet ein praktisches Werkzeug, um LCNC-Projekte systematisch zu planen und dabei von Anfang an Aspekte wie Komplexität, Lizenzen und langfristige Wartbarkeit zu berücksichtigen. Auf einer übergeordneten strategischen Ebene hilft das IT-Governance-Framework COBIT, LCNC-Initiativen an den Geschäftszielen auszurichten, Risiken zu bewerten und den Wertbeitrag zu messen. COBITs klare Trennung von Governance (Richtung vorgeben) und Management (Ausführung) liefert die perfekte Blaupause für die Rollenverteilung zwischen dem CoE und den dezentralen Entwicklerteams.


4.2. Compliance by Design: DSGVO & BSI C5 im Fokus


Für deutsche Unternehmen ist die Einhaltung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und der Sicherheitsstandards des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) nicht verhandelbar. Der Einsatz von cloud-basierten LCNC-Plattformen, die oft von US-Anbietern stammen, wirft sofort kritische Fragen zur Datenresidenz und zum Schutz personenbezogener Daten auf.

Führende Anbieter haben auf diese spezifisch deutschen und europäischen Anforderungen reagiert und bieten gezielte Lösungen an, die ein entscheidendes Auswahlkriterium darstellen:

  • Microsoft Power Platform: Microsoft garantiert mit der EU Data Boundary, dass Kundendaten für die Power Platform und andere Kerndienste innerhalb der EU/EFTA gespeichert und verarbeitet werden. Für den hochregulierten deutschen Markt, insbesondere den öffentlichen Sektor, wurde zudem eine Partnerschaft mit der SAP-Tochter Delos Cloud geschlossen, um eine souveräne, von Microsofts globaler Cloud unabhängige Instanz in deutschen Rechenzentren zu betreiben.

  • SAP Build: Die Plattform läuft auf der SAP Business Technology Platform (BTP), die eine Attestierung nach dem BSI C5-Katalog erhalten hat. Der "Cloud Computing Compliance Controls Catalogue" (C5) des BSI ist ein anerkannter Standard für Cloud-Sicherheit in Deutschland und wird von vielen Behörden und Unternehmen in kritischen Sektoren als Voraussetzung für den Einsatz eines Cloud-Dienstes angesehen.

  • Mendix: Die Plattform von Mendix (Siemens) bietet flexible Deployment-Optionen. Für Unternehmen mit höchsten Anforderungen an die Datensouveränität ist das Hosting auf STACKIT möglich, einer souveränen Cloud-Plattform mit Rechenzentren ausschließlich in Deutschland und Österreich, die explizit DSGVO-konform ist.

Die Investition in eine Plattform mit nachweisbarer Compliance, wie z.B. einer BSI C5-Attestierung, ist zwar mit Kosten verbunden (Audits können zwischen 15.000 EUR und 100.000 EUR kosten), stellt aber einen erheblichen Vertrauensbeweis und Wettbewerbsvorteil dar, insbesondere im Geschäft mit dem öffentlichen Sektor und regulierten Industrien.


4.3. Wirtschaftlichkeitsbetrachtung (Total Cost of Ownership)


Die Frage, ob LCNC langfristig wirklich günstiger ist, lässt sich nur durch eine umfassende Total Cost of Ownership (TCO)-Analyse beantworten. Eine rein auf die initialen Entwicklungskosten fokussierte Betrachtung greift zu kurz und führt zu falschen Schlussfolgerungen.

Eine realistische TCO-Analyse muss folgende Kostenarten über einen Zeitraum von 3-5 Jahren berücksichtigen:

  1. Initiale Entwicklungskosten: Hier spielen LCNC-Plattformen ihre größte Stärke aus. Eine Studie von Siemens/Mendix legt nahe, dass die Entwicklungskosten im Vergleich zu Pro-Code um den Faktor vier oder mehr sinken können.

  2. Plattform-Lizenzkosten: Dies ist der größte Kostentreiber bei LCNC. Es handelt sich um wiederkehrende, oft nutzer- oder anwendungsbasierte Gebühren, die bei Pro-Code nicht anfallen.

  3. Wartungs- und Update-Kosten: Während die Wartung einer Low-Code-App prozentual günstiger sein kann (z.B. 15 % der Initialkosten vs. 20 % bei Pro-Code), muss dieser Satz auf die Gesamtkosten (inkl. Lizenzen) angewendet werden. Die Plattform-Updates werden vom Anbieter übernommen, was ein Vorteil ist.

  4. Infrastrukturkosten: Kosten für das Cloud-Hosting der Anwendung und der Plattform selbst.

  5. Governance- und Schulungskosten: Die Personalkosten für das Center of Excellence und die Durchführung von Trainings für Citizen Developer sind ein signifikanter, oft übersehener Posten.

Das folgende TCO-Modell, basierend auf den Annahmen der Siemens/Mendix-Studie, illustriert den Vergleich für eine beispielhafte Anwendung mit initialen Pro-Code-Entwicklungskosten von 150.000 €.

Kostenart

Pro-Code (€)

Low-Code (€)

Anmerkungen

Jahr 1: Entwicklung & Initialkosten

150.000

37.500

Annahme: 4x schnellere Entwicklung mit Low-Code.

Jahr 1: Infrastruktur & Lizenzen

7.500

25.000

Annahme: 5% der Dev-Kosten für Pro-Code-Infra; Feste Lizenzgebühr für Low-Code.

Jahr 2-5: Wartung (p.a.)

30.000

5.625

Annahme: 20% der Dev-Kosten für Pro-Code; 15% für Low-Code.

Jahr 2-5: Infrastruktur & Lizenzen (p.a.)

7.500

25.000

Laufende Kosten.

Gesamtkosten (5 Jahre)

300.000

160.000

TCO-Berechnung über den gesamten Zeitraum.

Ersparnis mit Low-Code

-

140.000 (47%)

Signifikante TCO-Reduktion trotz Lizenzkosten.

Dieses Modell zeigt, dass trotz der erheblichen Lizenzkosten der TCO einer Low-Code-Anwendung über fünf Jahre signifikant niedriger sein kann. Der Hebel liegt in den massiv reduzierten initialen und laufenden Personalkosten für Entwicklung und Wartung.


4.4. Das Vendor-Lock-in-Dilemma


Eine der größten strategischen Sorgen deutscher Unternehmen beim Einsatz von LCNC-Plattformen ist die Abhängigkeit von einem einzigen Anbieter. Was passiert, wenn der Anbieter die Preise drastisch erhöht, sein Produkt einstellt oder die strategische Ausrichtung ändert? Die in der Plattform erstellten Anwendungen und das darin enthaltene Know-how sind dann gefangen.

Dieses Risiko lässt sich nicht eliminieren, aber durch strategische Maßnahmen mitigieren:

  • Priorisierung von Offenheit: Bevorzugen Sie Plattformen, die auf offenen Standards basieren, umfassende APIs für den Datenexport und die Integration bereitstellen und idealerweise den Export des generierten Quellcodes ermöglichen.

  • Klärung der Eigentumsrechte: Klären Sie vertraglich, wem die erstellten Anwendungsmodelle und der generierte Code gehören. Das Fraunhofer Low-Code-Canvas empfiehlt, dies explizit zu prüfen.

  • Multi-Plattform-Strategie: Größere Organisationen können das Risiko streuen, indem sie bewusst verschiedene Plattformen für unterschiedliche Anwendungsdomänen einsetzen (z.B. SAP Build für SAP-Erweiterungen, Microsoft Power Platform für Office-Integrationen).

  • Fokus auf die Geschäftslogik: Dokumentieren Sie die Kern-Geschäftslogik einer Anwendung plattformunabhängig. Dies erleichtert eine potenzielle Migration auf ein anderes System, auch wenn die UI neu erstellt werden muss.

Die strategischen Herausforderungen sind eng miteinander verknüpft. Eine mangelhafte Governance führt fast zwangsläufig zu Compliance-Verstößen. Diese wiederum verursachen unvorhergesehene Kosten für die Bereinigung und mögliche Strafen, was den TCO in die Höhe treibt. Gleichzeitig führt eine unkontrollierte, aber tiefgreifende Verbreitung von Anwendungen auf einer einzigen Plattform zu einem maximalen Vendor Lock-in. Daraus folgt, dass die Investition in ein robustes Governance- und Compliance-Framework von Anfang an keine "optionalen Kosten" darstellt, sondern die entscheidende Voraussetzung ist, um die wirtschaftlichen Vorteile von LCNC überhaupt realisieren zu können und die strategischen Risiken beherrschbar zu halten.


5. Ein strategischer Rahmen für Ihre Entscheidungsfindung


Die bisherige Analyse hat die Komplexität der Entscheidung zwischen No-Code, Low-Code und Pro-Code verdeutlicht. Um Führungskräften ein praktisches Werkzeug an die Hand zu geben, fasst dieser Abschnitt die Erkenntnisse in einer Entscheidungsmatrix und konkreten Handlungsempfehlungen zusammen.


5.1. Die Entscheidungsmatrix: Welcher Ansatz für welchen Zweck?


Diese Matrix dient als strategischer Kompass. Sie ermöglicht es Entscheidungsträgern, die Anforderungen eines spezifischen Projekts oder Problems anhand kritischer Kriterien zu bewerten und den am besten geeigneten Entwicklungsansatz zu identifizieren. Die Bewertungen (Skala: ● Gering bis ●●●●● Hoch) berücksichtigen die unterschiedlichen Kontexte von KMU und Großunternehmen.

Kriterium

No-Code

Low-Code

Pro-Code

Entwicklungsgeschwindigkeit

●●●●●

●●●●

Initiale Kosten (Entwicklung)

●●●●●

●●●●

TCO (5 Jahre)

●●● (KMU)

●● (Konzern)

●●●●

●●●

Skalierbarkeit (Nutzer/Daten)

●●

●●●●

●●●●●

Flexibilität/Anpassbarkeit

●●●

●●●●●

Integration (Legacy/SAP)

●●●●

●●●●●

Compliance (DSGVO/BSI)

●● (Anbieterabhängig)

●●●● (Anbieterabhängig)

●●●●● (Volle Kontrolle)

Governance-Aufwand

●●●●● (Hohes Risiko)

●●● (Strikte Regeln nötig)

●● (Etablierte Prozesse)

Anforderung an Entwickler

● (Citizen Developer)

●●● (Citizen & Pro-Developer)

●●●●● (Pro-Developer)

Anwendung der Matrix: Ein mittelständisches Industrieunternehmen möchte eine mobile App für seine Servicetechniker zur Anbindung an das bestehende SAP-System entwickeln. Kritische Kriterien sind hier Integration (SAP) und Flexibilität. Die Matrix zeigt klar, dass No-Code hier ungeeignet ist. Die Wahl fällt auf Low-Code, da es eine gute Balance aus Geschwindigkeit und der notwendigen tiefen Integration bietet, während Pro-Code zu langsam und teuer wäre.


5.2. Handlungsempfehlungen für Entscheider: Ihr Weg zur agilen Anwendungsentwicklung


Eine erfolgreiche Implementierung folgt einem strukturierten, phasenweisen Vorgehen.

Phase 1: Strategische Ausrichtung

Definieren Sie klare, messbare Geschäftsziele für den Einsatz von LCNC. Geht es primär darum, den IT-Backlog abzubauen? Sollen Innovationen beschleunigt werden? Oder steht die Befähigung der Fachbereiche im Vordergrund? Die Antwort bestimmt die Prioritäten bei der Plattformauswahl und Governance.

Phase 2: Aufbau eines Center of Excellence (CoE)

Dies ist der wichtigste und nicht verhandelbare Schritt. Etablieren Sie ein interdisziplinäres Team, das für die Auswahl der Plattformen, die Definition von Sicherheits- und Architekturrichtlinien, die Bereitstellung von Schulungen und den Support der Entwickler-Community verantwortlich ist. Das CoE ist der Garant für eine nachhaltige und sichere LCNC-Nutzung.

Phase 3: Pilotprojekte und Technologiewahl

Beginnen Sie nicht mit einem unternehmensweiten Rollout. Wählen Sie 2-3 Pilotprojekte mit hohem Geschäftsnutzen und überschaubarer Komplexität. Nutzen Sie die Entscheidungsmatrix (5.1) und das Fraunhofer Low-Code-Canvas, um für diese Piloten den richtigen Ansatz und die passende Plattform zu evaluieren. Messen Sie den Erfolg dieser Piloten quantitativ (z.B. eingesparte Zeit, ROI).

Phase 4: Change Management & Skalierung

Die Einführung von Citizen Development ist ein Kulturwandel. Dieser muss aktiv gestaltet werden. Ein effektiver Ansatz orientiert sich an etablierten Theorien der Innovationsdiffusion und Technologieakzeptanz. Anstatt einen Top-Down-Ansatz zu verfolgen, der auf Widerstand stoßen kann, sollte eine organische Adoption gefördert werden:

  1. Identifizieren Sie die "Innovatoren": In jedem Unternehmen gibt es technologieaffine Mitarbeiter in den Fachbereichen, die von Natur aus neugierig sind. Geben Sie diesen "Early Adoptern" Zugang zu einer gouvernierten No-Code-Plattform, um ihre eigenen Probleme zu lösen.

  2. Schaffen Sie Erfolgsgeschichten: Unterstützen Sie diese erste Gruppe aktiv und machen Sie ihre Erfolge im Unternehmen sichtbar. Dies steigert die "wahrgenommene Nützlichkeit" (Perceived Usefulness) der Technologie, ein Schlüsselfaktor im Technology Acceptance Model (TAM).

  3. Überzeugen Sie die "Frühe Mehrheit": Nutzen Sie die positiven Beispiele, um eine breitere Gruppe von Mitarbeitern und auch die professionelle IT-Abteilung zu überzeugen. Zeigen Sie der IT, wie High-Performance-Low-Code-Plattformen ihre eigene Arbeit beschleunigen können.

  4. Skalieren Sie das Programm: Bauen Sie auf diesen Erfolgen auf, indem Sie das Schulungsangebot, die Community-Plattformen und den Support durch das CoE schrittweise ausbauen.


5.3. Ausblick und Prognose: Die Zukunft ist "fusioniert" und KI-gestützt


Die Entwicklung im Bereich LCNC schreitet rasant voran und wird die Anwendungsentwicklung in den kommenden Jahren weiter fundamental verändern.

Generative AI als Co-Pilot

Die Zukunft der Anwendungsentwicklung ist untrennbar mit Künstlicher Intelligenz verbunden. LCNC-Plattformen werden sich zu intelligenten Assistenten entwickeln, die Entwicklern bei jedem Schritt zur Seite stehen. Von der Generierung von App-Entwürfen aus Textbeschreibungen über die automatische Erstellung von Datenmodellen bis hin zur Code-Vervollständigung wird KI den Prozess weiter beschleunigen und die Einstiegshürden senken.

Der Aufstieg der Fusion Teams

Das Organisationsmodell der Zukunft bricht die Silos zwischen IT und Fachbereichen auf. An ihre Stelle treten "Fusion Teams", in denen Pro-Coder, Low-Coder, Datenanalysten und Citizen Developer projektbasiert zusammenarbeiten. Jeder bringt seine spezifischen Fähigkeiten ein und nutzt die Werkzeuge, die für die jeweilige Aufgabe am besten geeignet sind – alles innerhalb der sicheren Leitplanken, die vom zentralen CoE vorgegeben werden.

Der Portfolio-Ansatz als strategisches Ziel

Die finale Erkenntnis für strategische Entscheider ist, dass es nicht um eine "Entweder-oder"-Entscheidung geht. Reife digitale Organisationen werden nicht einen einzigen Ansatz wählen, sondern ein Portfolio von Entwicklungsmethoden managen. Die strategische Exzellenz liegt darin, für jedes geschäftliche Problem – von der einfachen internen App bis zum komplexen, globalen Kernsystem – systematisch und bewusst den passenden Ansatz aus dem Portfolio auszuwählen und das richtige Team mit den richtigen Werkzeugen zu befähigen. Dies ermöglicht es deutschen Unternehmen, die Geschwindigkeit der Digitalisierung zu meistern, ohne die Kontrolle über ihre technologische Zukunft zu verlieren.